Der Weg auf dem Asphalt ist das Ziel

Ismaël war ein kleiner Junge. 1962 in Marokko geboren, wuchs er in Südfrankreich auf. Seine Mutter ging nicht ins Kino, schaute sich aber spätabends im Fernsehen gerne Klassiker an. Nur verstand sie die nicht. So holte sie nach Mitternacht ihren

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Ismaël war ein kleiner Junge. 1962 in Marokko geboren, wuchs er in Südfrankreich auf. Seine Mutter ging nicht ins Kino, schaute sich aber spätabends im Fernsehen gerne Klassiker an. Nur verstand sie die nicht. So holte sie nach Mitternacht ihren Achtjährigen aus dem Bett. Der Bub übersetzte, und schien es ihm zu heftig, dann flunkerte er und erzählte ihr irgendwas. Am andern Morgen, in der Schule, sah er kaum aus seinen Augen, «aber ich wusste», sagt Ismaël Ferroukhi heute: «Ich will Geschichten erzählen!»

Eine schöne Geschichte, wie einer zum Geschichtenerzählen gekommen ist. Man glaubt sie ihm. Ferroukhi hatte zunächst gar nicht Filme im Kopf, vielmehr Romane oder Kurzgeschichten, «dann merkte ich, dass ich beim Schreiben nicht über Stil verfüge. Aber ich hatte Bilder!» «Le Grand Voyage» ist sein erster langer Spielfilm, und weil seine beiden Helden, ein marokkanischer Vater und sein Sohn unterwegs von Aix-en-Provence nach Mekka, sich mit Worten wenig zu sagen wissen, ist er in starken Bildern erzählt. Der Vater versteht Französisch, spricht es aber nicht. Er ist im Film einfach der Vater, der Sohn heisst Reda. Als Reda gezwungen wird, Freundin und Prüfungen zu vergessen und den Vater über 5000 Kilometer nach Mekka zu chauffieren, treffen zwei Welten und zwei Generationen im Auto aufeinander. «Ja, die Huis-clos-Situation», bestätigt der Regisseur. Zwei also müssen sich finden, Schritt für Schritt.

Die Erfahrung ist nicht schmerzlos. Und das Thema, das hier auf kleinstem Raum erzählt sein will, ist gross. Es berührt mehrere Sprachen und Länder: von Frankreich über den Balkan und Kleinasien bis nach Saudiarabien. Die Kulturen sind verschieden, aber «in the Middle of Nowhere» gleicht sich manches, an den Schlagbäumen der Grenzen ohnehin. Und alles wird «on the road» bekanntlich ganz konkret.

Die Binsenwahrheit bestätigt sich vor dem politisch-religiösen Hintergrund der aktuellen Spielfilme, die sich mit der islamischen Welt und mit den kulturellen Gräben zwischen (Nah-) Ost und West auseinandersetzen. Denn es braucht diese Filme mit Geschichten aus dem Alltag, die Parolen, Misstrauen und Missverständnisse in ihrer lähmenden Wirkung zeigen und imstande sind, sie - vielleicht - Makulatur werden zu lassen. Es braucht Filme, die die Schwierigkeiten nicht ausblenden, sondern sich ihnen stellen, damit die Zeichen der Hoffnung erst glaubwürdig werden können. Beobachten lässt sich, wie schwer es ist: Botschaften und Predigten zu entgehen, den News- Bildern, dem Pathos vom Krieg der Kulturen, dafür die Widersprüche der Realität zu zeigen, Metaphern und vielleicht gar Komik zu finden. Er habe ein «sujet grave d'une façon légère» behandeln wollen, sagt Ferroukhi, «Komik führt einer Geschichte Sauerstoff zu». Das Resultat, oft absurd, gibt ihm Recht.

«Le Grand Voyage» behandelt nicht den Islam als Religion. Ferroukhis Anliegen ist es, eine Gemeinschaft zu rehabilitieren, «deren Ruf beschädigt wurde durch eine extreme Minderheit, die die Religion zu politischen Zwecken missbraucht.» Hat die Reise nach Mekka ihn, der die Religion selber nicht praktiziert, verändert? «Nein. Menschlich aber habe ich viel gelernt, auch Vorurteile und unstimmige Bilder habe ich weglegen können. Und die Wirklichkeit des Islams ist im Allgemeinen nicht terroristisch.»

Ferroukhis Ausgangspunkt war die Pilgerreise seines Vaters, als er selber ein Teenager war. Jener Route sollte «Le Grand Voyage» folgen, mehr an Autobiografischem ist da nicht. Auch ist die eigene Rekognoszierungsreise nur vereinzelt in den Film eingeflossen, etwa in der witzigen Szene, in der einer auf die beiden Pilger in ihrem Peugeot einredet und sie kein Wort verstehen. Für Improvisation beim Dreh war kein Platz, alles ist im Drehbuch fixiert gewesen. Der Regisseur wollte unbedingt vermeiden, dass die Schauspieler zu «explicatif» würden.

Der junge Nicolas Cazalé und der ältere Mohamed Majd sind ihm darin gefolgt: Der marokkanische Schauspieler gibt einen fest in seiner Tradition wurzelnden Patriarchen, der unterwegs das Handy des Sohns in die Mülltonne wirft und dennoch dazulernt. Der junge Franzose Cazalé dagegen spielt einen Aufbegehrenden von roher physischer Präsenz und Sensibilität: Schweigend äussert sich sein Protest - und später in Mekka sein Schmerz. Man vergisst das Spielen der beiden im Setting auf der Strasse zwischen Fiktion und Dokument. So habe sich in der Zusammenarbeit, sagt der Regisseur, «die Geschichte zwischen Vater und Sohn auf der Ebene der Schauspieler wiederholt». Man spürt es: Von dieser Dichte und Energie ist der schöne Spielfilm durchdrungen.

«Le Grand Voyage» startet am 2. Juni.