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Filmtext

Zwischen Freundschaft, Misstrauen und moralischer Kälte

Im Jahre 1966 wurde im kommunistischen Rumänien ein Gesetz erlassen, das den Kinderreichtum fördern und „den neuen Menschen“ schaffen sollte. Das vom Diktator Nikolai Ceauºescu betriebene, an nationalsozialistische Ideen erinnernde Sozialexperiment huldigte Volk, Heimat und Nation und griff dabei massiv in das Leben der Bürger, vor allem aber der Frauen ein. Denn mit dem Dekret 770 wurden alle Arten von Verhütung verboten und Abtreibungen unter hohe Strafe gestellt. Die Folgen waren nicht nur eine zunächst erhöhte Geburtenrate, sondern auch eine Zunahme illegaler Abtreibungen, bei denen Tausende von Frauen starben. „In diesem Umfeld verlor Abtreibung ihre moralische Konnotation und wurde eher als Akt der Rebellion und des Widerstands gegen das Regime wahrgenommen“, sagt der 1968 geborene, rumänische Filmemacher Cristian Mungiu. Sein Film „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“, der mit der Goldenen Palme von Cannes und mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet wurde, verschweigt absichtlich diese Hintergründe, um sich ganz auf die individuellen Dramen in einem historisch genau beschriebenen gesellschaftlichen und sozialen Kontext zu konzentrieren. Und um dabei vor allem die moralische Dimension von Schwangerschaftsabbrüchen ins Bewusstsein zu rücken.



Mungius nach einer wahren Begebenheit realisierter Film ist der erste Teil einer Trilogie, die in Anlehnung an Ceauºescus Propaganda-Worte vom „Goldenen Zeitalter“ den Titel „Geschichten aus goldenen Zeiten“ trägt und im Jahre 1987 in einer nicht näher bezeichneten rumänischen Stadt spielt. Hier leben die Technik-Studentinnen Otilia (Anamaria Marinca) und Gãbiþa (Laura Vasiliu), beide Anfang Zwanzig, in den beengten Verhältnissen eines Wohnheims, wo es keine persönlichen Rückzugsorte gibt. Der Schwarzmarkt unter den Kommilitonen floriert, alles scheint sich um „Materialbeschaffung“ und Handel zu drehen, was manchmal einer kreativen, konspirativen Partizipation am fernen, westlichen Wohlstand gleicht. Zusammenhalt, Solidarität und Freundschaft sind ebenso stark wie die kontrollierenden und überwachenden Kräfte des Regimes, die Misstrauen und Feindseligkeit verbreiten. Als die schwangere Gãbiþa sich im bereits fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft zu einer illegalen Abtreibung entschließt, übernimmt ihre dynamische Freundin Otilia die Organisation des Termins in einem Hotel.



Der Zuschauer erfährt dies jedoch erst relativ spät. Der Film erzählt davon zunächst eher zwischen den Zeilen und im konsequenten Nacheinander rigoroser, oft in Echtzeit gedrehter Einstellungen, die mitunter eine beklemmende Intensität erreichen. Wenn etwa der Engelmacher Domnu Bebe (Vlad Ivanov) den potentiell gefährlichen Ablauf des mit einer Sonde durchgeführten Eingriffs schildert, mit seiner Macht die beiden jungen Frauen einem extremen Druck aussetzt und schließlich brutal und gewissenlos ihre Notlage und Abhängigkeit sexuell ausbeutet, verdichtet sich die fast unerträgliche Spannung zum Schock. Die präzise rekonstruierten Schauplätze, der düstere Realismus und eine minutiöse Beobachtung der hervorragend verkörperten Figuren erzeugen solche Ausweglosigkeit und eine klaustrophobische Atmosphäre, die das Cinemascope-Format mehr als ausfüllt. Dabei ist die Geschichte nicht etwa aus Gãbiþas Perspektive erzählt, sondern aus derjenigen Otilias. Cristian Mungiu geht es nämlich sowohl um die korrupten Bedingungen, inhumanen Umstände und die moralische Fragwürdigkeit des Eingriffs als auch um die Brüchigkeit von Beziehungen und Freundschaften, die einer extremen Belastungsprobe ausgesetzt sind. So ist das Misstrauen der beiden Frauen im Überwachungsstaat zwar ein natürlicher, „gesunder“ Reflex; die Unregelmäßigkeiten und kleinen Verschiebungen, die von ihm ausgelöst werden, machen ihre Loyalität und Freundschaft jedoch angreifbar und führen in Mungius Film auf ebenso paradoxe wie fatale Weise zur Bestätigung des Systems.



4. Januar 2008

Wolfgang Nierlin

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